Oh nein, denke ich, als mich Rolf bittet, heute nochmal mit dem Hund nach draussen zu gehen. Ich hatte mich auf einen ruhigen Abend gefreut. Aber nun gut, ich sehe ja, dass er nicht in der Verfassung dazu ist. Das Wetter ist viel zu warm und drückend für seinen noch instabilen Kreislauf.
Also los. Timmy zieht wieder wie ein Kalb. Bis wir nur schon beim Wald sind, bin ich bachnass. Aber das kenne ich ja. Am liebsten möchte er sich dorthin beamen! So schnell bin ich nicht, also gilt "bei Fuss"! Beim Klee Zentrum kann ich ihn endlich von der Leine lassen und meinen malträtierten Arm ausschütteln. Brav sitzt er, wartet, bis ich ein paar Meter voraus bin, mich umdrehe und sage "frei!" - und schon zischt die schwarze Rakete an mir vorbei. Auch hier weiss ich, das reicht genau bis zur ersten Duftmarke an einer der jungen Birken oder im hohen Gras. Und genau so ist es: Vollbremsung. Nach der ersten Wegbiegung die nächste Gehorsamsprobe: "Bei Fuss" ohne Leine. Das geht besser als mit Leine, aber heute hat Monsieur besonderen Eingenwillen. Die Distanz ist eher Frauchen bei Rutenspitze als Hund bei Fuss... Also stampfe ich einmal auf und beharre auf Sitz! Jetzt hat er begriffen und sein Kopf ist genau neben meine Knie - erstaunlich! Wir sind schon auf dem Weg in den Wald hinein. Da gibt er bei meiner Erlaubnis wieder einen Zacken mehr und zottelt davon. Nicht weit, wenn keine Katze auf der Bildfläche erscheint. Ich habe Glück und er wartet auch brav, welchen Weg ich einschlagen werde.
Ein Hund kommt in Begleitung entgegen, moniert sofort: Das ist mein Wald, verschwinde!
Phü, denkt unser Timmy und hebt das Bein. Der andere knurrt und bellt, geht ihn auch an, aber Timmy lässt das kalt. Dein Wald? Dass ich nicht lache. Denkt's und kehrt dem andern locker den Allerwertesten zu. Ha!, denke ich, mein cooler Hund!
Wir ziehen den Spazierweg am Zaun entlang. Es riecht nach Grillfeuer und man hört überall fröhliches Gelächter. Im Jugendwohnheim liegen die ersten Jugendlichen bereits am seit heute wieder gefüllten Pool, während andere Fussball spielen. Das gehört zu den Dingen, die sich nicht geändert haben, denke ich. Auch am Grillplatz am Ende des Zauns sind Stimmen zu hören. Ich pfeife meinem braven Hundi - und es kommen zwei! Die jungen Leute da draussen lachen über ihre übereifrige Hündin, die an meinem grossen Rüden Gefallen findet, der sich auch tatsächlich beschnuppern lässt. Doch, jetzt zeigt auch er Interesse - aber nicht zu viel. Bloss nicht lange aufhalten lassen, weiter geht's, in den Wald hinein. Dass ich ihn da gar nicht erst zu rufen brauche, weiss ich: Er steuert sein erstes Wasserloch an. Es liegt wie die andern am Fusse eines grossen Baumes zwischen dessen Wurzeln. Seinen Thunersee vermissend hat er sich diese Stellen sehr rasch gemerkt und läuft sie zielsicher an - wehe, sie sind leer. Dann läuft er zuletzt nur noch schwer hechelnd neben mir her. Aber noch ist genug Power da um im Gegenteil mich hinterherschnaufen zu lassen. Nö, denke ich, und schlage einen weniger steilen und schmaleren Weg ein. Er muss wenden.
Jetzt, im Frühling, kann ich diese Wege bedenkenlos geniessen. Noch vor wenigen Wochen wäre ich um diese Zeit nicht mal in den Wald hinein gegeangen, gescheige denn auf die kleinen Trampelpfade. Aber heute, ja, jetzt ist es wieder mein Wald, wie ich ihn kenne. Eben noch fast kahl und öde, enttäuschend bei unserer Ankunft im Herbst, so anders und viel kleiner als ich ihn in Erinnerung hatte von damals, als nicht meine Tochter mit Timmy, sondern ich im gleichen Alter mit Ricca, der schönen aber etwas doofen Bearded-Collie-Hündin, deren Wolle immer noch in Form von selbstgekardeten, gesponnen und gewobenen (nicht von mir! von meiner Mutter) Decken existiert, hier herumstreifte und Fotos machte, weil ich den Wald so schön fand. Heute erkenne ich ihn wieder: Die Blätter in saftigem Grün, Äste überall verteilt, Altholz für die Ökologie und Material für die Kreativität der Waldspielgruppe (die gab's damals noch nicht), Waldhütten, Grillstellen und jede Menge breiter und schmaler Wege, die den ganzen kleinen Wald durchkreuzen und so doch irgendwie gross machen. Das Märchenhafte zeigt sich wieder, die verwinkelten Pfade, die Wurzelstöcke, die malerischen Plätzchen. Jetzt, ja, im Frühling, da gefällt's mir wieder, kann ich's geniessen. Gut, der Zug, der gerade nebendarn vorbeifährt, passt nicht zu Kulisse - aber die Vögel stört's nicht, die zwitschern munter weiter drauflos.... Irgendwann bin ich wieder oben, wo ich in den Wald reingekommen bin, und durch das Geäst leuchtet sattes Rot. Der Sonnenuntergang beleuchtet die restlichen Wolken an der Jurakette und taucht sie in Glut! Davor der Friedhof. Fading away, denke ich. Zu dumm, dass mein grosses Ungetüm nicht ruhig auf mich warten kann, sonst würde ich meinem Vater dort drüben einen Besuch abstatten. So geniesse und knipse ich lediglich die Stimmung und denke an ihn.
Beim Weitergehen, aus dem Wald hinaus und einmal ums Kleemuseum herum, staune ich über die Weitsicht. Ist das dort hinten im Abendrot nicht der Sendeturm auf dem Chasseral? Die Jurakette leuchtet im herrlichsten Rot!
Von ferne naht am Himmel noch ein anderes Licht, steuert auf mich zu, schwebt über mich hinweg in Richtung Belpmoos zum Landen, weckt Feriengelüste. Und auf der andern Seite, die bereits in dunkels Blau taucht, sehe ich die Schneeberge im letzten Licht schimmern. Tatsächlich, dieses helle weisse Licht über den roten Positionslichtern der Murifeldüberbauung, an deren Entstehen mein Vater so grossen Anteil hatte, dieses Licht zwischen Mönch und Jungfrau ist die Wetterstation auf dem Junfraujoch.
Mit dem hechelnden schlappen Hund an meiner Seite schlendere ich nach den obligaten Kunststückchen infolge Futterbestechung nun der Strasse entlang nach Hause zurück. Auch hier: Die Pfingstrosen zum Selberschneiden sind kurz vor der Blüte, der Löwenzahn bereits weiss und wartet auf Wind, die Kerzen der Kastanien mit ihren üppig grossen Blättern blühen. ...und die Bienen in der Luft, erfüllen sie mit Honigduft ... na ja, ich sehe, höre, rieche keine, aber es ist eindeutig - Frühling!
Und wer sich jetzt über meine poetischen Anwandlungen gewundert hat - das ist eine Nachwirkung der vielen begeisterten Reaktionen auf meine veröffentlichte Vorweihnachtsgeschichte... danke dafür!