Stammtischgeschichte
Der ältere Lebemann aus dem Unterland, der sich gerade erst dazugesetzt hat, erzählt aus seinem reichhaltigen Leben, ungefragt, nimmt den gesamten Raum ein. Anekdote um Anekdote fällt ihm ein und er weiss sich interessant. Das Thema ist die Fasnacht, und er erinnert sich an ein von ihm gebasteltes Sujet auf einem Umzugswagen , dessen umfangreiche Vorgeschichte er zum Besten gibt.
In einer namhaften Konditorei in einer kleineren Stadt in der zweisprachigen Schweiz sass er mit einem Politiker der obersten Gattung zusammen und erzählte diesem folgenden Witz: “Weisst du, weshalb in diesem ehrenwerten Lokal die Serviererinnen keine Höschen tragen?”
Der Politiker, ein Mann aus dem Volk wie er selbst, erwartete gespannt die Antwort: “Nein, warum?”
“Damit die Fliegen nicht an die Torten gehen.”
Unglücklicherweise hörte die Inhaberin des Lokals jenen Spruch und war verständlicherweise darüber nicht erbaut. In der Folge verklagte sie den Gast und dieser musste beim örtlichen Gericht vorstellig werden. Der Laienrichter fragte den Angeklagten mehrmals, wie sich denn diese Situation genau abgespielt habe, worauf bei jeder erneuten Schilderung der ganze Saal in grosses Gelächter ausbrach. Auch dass als Zeuge dieser Lappalie der allseits bekannte Spitzenpolitiker auftrat, trug wesentlich zur Erheiterung bei. So sprach schlussendlich der Richter eine Strafe von einem einjährigen Tea Room-Verbot aus. Die Gerichtskosten trug der Staat.
Die von unserem Stammtischgast an der Fasnacht präsentierte Wagendekoration bestand aus einer riesenhaften Torte mit einer an einer Feder montierten grossen Fliege, die fröhlich darauf herumtanzte. Auch ohne jeglichen Kommentar war das Sujet für den ganzen Ort, bestimmt aber für die klaghafte Konditoreiinhaberin klar verständlich.
Bevor mein Gegenüber noch weitere lange Geschichten zu Besten geben kann, verabschiede ich mich.
“Wann kommst du wieder?”, fragt mich der nette Einheimische, der meinen Kaffee bezahlen wird.
“Nächsten Winter”, muss ich ihn enttäuschen. Aber die Idee ist geboren. Da, wo Leute zusammenkommen, werden Geschichten erzählt, die das Leben schrieb. Schade eigentlich, wenn sie niemand aufschnappt und weiterträgt.
Missmut
Man scheint sich jedenfalls längst an meine Misstöne gewöhnt zu haben, sonst würde man etwas dagegen tun. Aber mich beachtet ja sowieso keiner mehr. Früher, ja früher, da hatte ich wenigstens noch eine standesgemässe Umgebung, auch wenn nur ganz selten mal jemand zu mir kam und sich mit mir unterhielt. Heute aber diene ich nur noch dazu, dass man bei mir abladen kann, was man nicht mehr braucht. Zwischen meinen Beinen, hinter mir an der Wand, sogar auf meinem breiten Rücken wird abgelagert, was man loswerden will. Wie soll ich da noch eine vernünftige Unterhaltung bieten? Zugemüllt, ja, das ist das richtige Wort dafür. Da soll noch einer eine anständige Saite anschlagen!
Ach, wie war das schön, damals in meiner Jugend, weit weg von hier. Kaiserlich-königlich war meine Herkunft. Ich wurde mit viel Liebe erzeugt, gepflegt und gehätschelt, machte ein gutes Bild und posierte mit allerhand wichtigen Leuten. Dann kam ich zu einer netten Familie. Sie waren zufrieden mit mir. Der jungen Dame war ich so sehr ans Herz gewachsen, dass sie mich bei ihrer Heirat mitnahm in dieses schöne Land hier. In ihrem Haus bekam ich einen Ehrenplatz und später durfte ich bei der Familie ihres Schwagers in einem altehrwürdigen Patrizierhaus wohnen. Die Tochter brachte alle ihre Pokale und Auszeichungen zu mir und ich präsentierte sie stolz.
Nun ja, dann war meine alte Dame gestorben, und ich stand da. Nach langem Hin und Her durfte ich in einem Saal Wohnsitz nehmen, wo wie gesagt ab und zu jemand bei mir vorbeikam und mir ein paar Töne entlockte. Aber das war dann auch schon alles. Immerhin. Heute jedenfalls sitze ich in diesem Keller bei der Frau, die mich vor dem Sperrmüll gerettet hat und frage mich, was wohl besser wäre. Mit Würde gestorben oder in dem dunklen Loch mit all dem ausrangierten Zeug der ganzen Familie. Am liebsten würde ich meinen alten Flügel aufspannen und davonfliegen. Aber ich weiss ja nicht einmal, ob man mich von hier jemals wieder hinaus tragen kann. Wenn ich wenigstens wieder mal neue Filze bekommen könnte, meine alten Saiten ersetzt würden und ich wieder erklingen dürfte…
Ich hätte doch mit meinen über hundert Jahren noch so viel zu bieten. Etwas mehr Respekt, bitte!
Parlament des Innern
“Wir haben uns versammelt, weil Kollegin Offenheit uns vor ein Problem gestellt hat.”
“Das Problem war schon lange schwelend vorhanden, nur hat keiner hier gewagt es auszusprechen”, verteidigt sich diese, “und ohne die Unterstützung von Kollege Mut wäre auch ich zu feige gewesen.”
“Feige, ja, wir alle waren feige!”, jammert Feige vor sich hin.
Herr Zeigefinger springt auf. “Sie, Herr Feige, nur Sie! Bitte schliessen Sie nicht von sich auf andere!”
“Wir alle, da hat er schon Recht”, meint Frau Einfühlsam, “oder haben SIE sich etwa mit Mut zusammengeschlossen?” Zeigefinger schnappt nach Luft.
Der Vorsitzende klopft wieder auf den Tisch:”Meine Damen und Herren, lassen wir alle einzeln zu Wort kommen. Zuerst die Trauer. Mir scheint, Sie haben es nötig. Was lastet auf Ihrer Seele?”
“Ach”, seufzt diese. “Wenn Offenheit und Mut nicht wären, könnte ich vielleicht noch anlehnen und kuscheln und mit Freund Traum zusammen glücklich sein. Aber so - ach, ich bin so traurig!” Die Tränen kullern bereits wieder über ihre Wangen und Frau Einfühlsam reicht ihr ein Taschentuch.
“Quatsch, Traum! Alles, was DER rauslässt, ist Schall und Rauch! Oder hat jemand von Ihnen schon jemals gesehen, dass Traum ein konkretes Resultat erbracht hätte?”, ereifert sich Zeigefinger.
Herr Kompromiss räuspert sich: “Nun ja, alleine nicht, aber mit unserer Hilfe schon. Erinnern Sie sich nur an den Beginn der Beziehung, wegen deren Ende wir hier versammelt sind. Ohne unsern Traum wäre daraus nie was geworden.”
“Das ist ja das Schlimme!” Zeigefinger fuchtelt wütend in der Luft herum. “Hätte dieser Träumer uns nicht mit seinen Luftschlössern alle an der Nase herumgeführt, müsste Frau Trauer jetzt nicht flennen!”
“Und wer hat die Baupläne der Luftschlösser entworfen? Und wer hat sie ausgeführt und die Träume in die Tat umgesetzt?”, fragt Frau Offenheit mit entwaffnendem Blick.
Der Realist rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum. “Nun ja, ich habe die eine oder andere dieser Arbeiten berechnet und ausgeführt. Aber bitte, worum geht es hier eigentlich? Diese Diskussion führt zu nichts. Wir brauchen Resultate, Lösungen für die jetzige Situation.”
“Ja, ja, sicher, wieder von der Schuld ablenken!”, raunt Herr Zeigefinger.
Doch der Vorsitzende bringt ihn zum Schweigen.”Was schlagen Sie vor, Herr Realist?”
“Nun, Tatsache ist, dass Frau Offenheit mit Mut endlich das vollbracht hat, was wir alle im Geheimen eigentlich schon lange als beschlossene Sache angesehen haben. Diese Beziehung war nicht mehr lebbar.”
Frau Trauer schluchzt laut vernehmlich auf. Der Realist fährt leicht irritert fort:”Ein Weiterführen des jetzigen Zustandes würde auch ein Weiterführen des Leidens bedeuten…”
“Sie… sie wollen mich loswerden? Wollen Sie das?”, ruft entsetzt der Leidende aus der letzten Reihe.
“Nein, natürlich nicht! Sie werden immer noch genug zu leiden haben,” beruhigt ihn Frau Einfühlsam. ”Stellen Sie sich nur vor, wie lange es dauert, bis sie die ganzen Schulden abbezahlt haben, den neuen Job im Griff und die Gartenarbeit ohne männliche Hilfe, und … ”
“Ja, danke, vielen Dank!”, freut sich der Leidende. “Und sonst kann ich ja wieder ein Ekzem zu Hilfe nehmen, nicht wahr?”
“Wenn man es genau betrachtet, hat das Ekzem uns alle alarmiert, Herr Leidender, nicht Ihnen geholfen.” Der Realist betrachtet seine Statistik. “Jedesmal, wenn etwas nicht in Ordnung ist, taucht dieses Ekzem auf. Ich habe da eine genaue Erhebung gemacht. Zum ersten mal war das …”
“Das reicht, danke. Frau Einfühlsam, können Sie uns diese Zusammenhänge etwas klarer erläutern?”
“Gerne, Herr Vorsitzender. Offensichtlich ist unser lieber Leidender meistens vollauf befriedigt mit der Bewältigung des Alltags. Wenn es aber allzu viel wird, und vor allem, wenn von uns niemand mehr zuhören will, wenn er jammert, dann nimmt er sich dieses Ekzem zu Hilfe und wir werden aufmerksam, dass da etwas nicht mehr stimmt. So ist das, nicht umgekehrt.”
“Nun gut. Wir wissen nun also, dass das Ekzem uns auf eine Überlastung des Leidens hingewiesen hat und dass Frau Offenheit mit Hilfe des Mutes die Sachlage ausgesprochen hat. Was genau ist nun das Problem, Herr Vorsitzender?”, fragt der Realist etwas irrititert.
“Das Problem ist”, entgegnet dieser, “dass hier bei uns ein Tumult ausgebrochen ist. Frau Trauer heult und zittert mit Herrn Feige, Herr Leidender quasselt uns die Ohren voll mit seinen Geschichten, Frau Einfühlsam und Herr Kompromiss rennen von einem zum andern und versuchen, zu verstehen, und Herr Zeigefinger gibt allen die Schuld, nur sich selbst nicht. Hat jemand einen Vorschlag, wie wir wieder Ordnung in dieses Chaos bringen können?”
Herr Kompromiss steht auf. “Wie wäre es, wenn wir akzeptieren, dass alle hier von uns, auch die bis jetzt nicht angesprochenen, wie Liebe, Wut, Freude, Angst, und wie sie alle heissen, eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen haben und somit ihre Berechtigung? Nehmen wir zum Beispiel Herrn Feige. Ohne ihn wäre Frau Offenheit geradewegs in die Wut hineingelaufen, die sich vielleicht mit Ärger und Gewalt zusammengeschlossen hätte. Die Folgen wären verheerend gewesen. Frau Einfühlsam leistet sowieso unbezahlbare Arbeit, denn ohne sie würden wir uns oft gegenseitig überhaupt nicht verstehen. Auch Zeigefinger mit seinen Anschuldigungen möchte ich nicht mehr missen. Denn wo wir wegsehen, sieht er hin. Der Realist bringt ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und Frau Trauer lässt uns nicht vergessen, was wir an etwas Vergangenem hatten. Wir sollten aufstehen und eine Schweigeminute einlegen.”
Murrend und schnupfend, nickend und ächzend tun sie das. Es wird still im Saal.
“Ich danke Ihnen allen. Sie können sich setzen.” Der Vorsitzende macht sich ein paar Notizen, bevor er sich wieder erhebt und verkündet: “Ich beantrage folgenden Beschluss: Wir, das Parlament des Inneren, anerkennen die Taten und Fähigkeiten aller unserer Mitglieder und unterstützen uns nach Kräften. Wer dem zustimmen kann, möge die Hand erheben. - Ich danke! Zu unserem bestimmten Fall, der Auflösung der Beziehung unseres Menschen mit seinem Partner, beantrage ich die Respektierung der Offenheit und der daraus erfolgten Reaktion. Ich finde, wir waren schon lange nicht mehr so offen und sie hat lediglich nach aussen getragen, was im Inneren schon längst quasi beschlossen war. Daher möchten wir sie darin unterstützen, auch weiterhin für uns tätig zu sein und auch uns selbst auf missbräuchliche Verbindungen aufmerksam zu machen. Wir sind davor nicht gefeit und brauchen sie dringend. Ich bitte Sie, dies mit Handzeichen zu bestätigen. - Ich danke! Der Beschluss ist einstimmig. Die Sitzung ist für heute geschlossen!”
Aufatmend löst sich die Runde auf und alle wenden sich bis zur nächsten Krisensitzung wieder ihren alltäglichen Aufgaben zu.
Noch einmal leben
Als Klaus wach wurde, lag er in einem sauber bezogenen Spitalbett. Der Raum war in angenehm hellen Farben gehalten, die ihm das Gefühl von Erholung und Urlaub gaben. Nur der Geruch störte ihn. Und das ewige Piepsen und Gluckern der Geräte und Schläuche. Er wollte sich umsehen um festzustellen, woher genau die Geräusche kamen – da rutschte er aus seinem gewohnten Blickfeld heraus und sah sich selbst von aussen im Krankenbett liegen. Er schlief.
Das war’s, dachte Klaus, ich bin tot.
Vorsichtig, als könnte er sich wecken, besah er sich näher und war erstaunt, wie fremd er sich war. Das also war er, Klaus Weimar, 45 Jahre alt, erfolgreicher Leiter einer Warenhausfiliale und von seinen Untergebenen gefürchtet.
Langsam kroch Verzweiflung in ihm hoch. Er musste sofort etwas unternehmen. Sein Verstand arbeitete wie wild. Aber er fand keine Möglichkeit, wieder in sich hineinzuschlüpfen. Die Herztöne waren regelmässig, der Körper da unten atmete, ohne Maschine, wie er feststellte. Er musste also noch am Leben sein. Verdammt! Es musste doch einen Weg geben…
Klaus schreckte aus seinen Überlegungen hoch, als die Tür sachte geöffnet wurde. Salome!
Ihr Gesicht war verweint. Da half auch das ungeschickt angelegte Make-Up nicht drüber hinweg. Im Gegenteil, er empfand es wie eine Maske und wollte seinem Ärger darüber gerade Luft machen, als er sich erinnerte, dass sie ihn wohl kaum hören konnte.
Salome ging wortlos zum Bett und nahm seine Hand. Lange sass sie so da. Er betrachtete sie erstaunt. Wann hatte er sie zum letzten Mal gesehen? Heute morgen? Wie hatte sie da ausgesehen? Was hatte sie getragen? Er hatte keine Ahnung. Jetzt schien sie in sich zusammengefallen, ein Schatten der Salome, die er in Erinnerung hatte. Doch er musste zugeben, dass diese Erinnerung schon ein paar Jahre alt war. Er sah sie wie damals, als er sich in sie verliebte, weil sie ihm zuhörte. Sie war einfach da gewesen, er wusste nicht einmal mehr woher. In seinem Suff war er ins Erzählen geraten, von seiner Frau, die ihn mit seinem Sohn verlassen hatte. Salome hörte zu, liess ihn erzählen, widersprach ihm sanft, aber so bestimmt, dass er zugeben musste, auch Fehler gemacht zu haben. Ja, so hatte alles begonnen. Sie war ihm wie ein Engel aus dem Himmel erschienen. Hübsch, halblanges dunkelbraun gelocktes Haar, eine weiche, warme Stimme und unendlich zärtliche Hände. Wann hatte er sie zum letzten Mal gefühlt, diese Hände?
„Ach, Klösschen!“, seufzte sie. Und er sah, wie ihr eine Träne über die Wange lief. „Es wird wieder gut kommen, du wirst sehen. Du wirst aufwachen, und irgendwann bist du wieder der Mann, den ich mal so geliebt habe. Mit deinem Mut und deinem Willen schaffst du es!“
Mut und Wille. Na toll! Daran fehlte es nun wirklich nicht. Wenn er nur wüsste, wie er in seinen Körper zurück könnte! Dann wäre der Rest ein Leichtes. Was störte ihn nur an ihrer Aussage?
Salome liess seine Hand los und drückte seinem Gesicht einen Kuss auf die Wange. „Mach’s gut!“, flüsterte sie so leise, dass Klaus es aus seiner entfernten Perspektive beinahe nicht gehört hätte, und ging.
‚Was soll das heissen?’, schrie er, ‚du kannst mich doch hier nicht einfach hängen lassen!’
Doch sie verschwand, wie sie gekommen war, sanft und ruhig.
Nachdem alles Nachdenken nichts gebracht hatte, beschloss Klaus, ein bisschen die Gegend zu erkunden. Das Zimmer kannte er ja schon. Wie war’s mit der Tür? Liess sie sich öffnen? Doch bevor er realisiert hatte, dass ihm das gewohnte Greifwerkzeug fehlte, war er schon durch sie hindurch geglitten. Er wollte gerade auf die Suche nach seinen Krankenblättern gehen, als er hörte, wie sich der Ton seines Elektrokardiogramms veränderte. Aus dem regelmässigen Piep wurde ein steter Ton, der nicht mehr abbrach. Gleichzeitig fühlte Klaus, wie sein Bewusstsein leichter wurde und immer höher schwebte. Schwestern und Ärzte rannten in sein Zimmer, ein durchorganisiertes Chaos brach aus. Geräte, Befehle, ein Knacken, Stille, knappe Zurufe, noch ein Knacken – piep – piep – piep…
Die Belegschaft jubelte, wischte sich mit fadgrünen Ärmeln den Schweiss von der Stirn und Klaus zog es in rasanter Fahrt nach unten zu seinem leblos daliegenden ihm fremdgewordenen Ich.
Uff, das war wohl knapp, dachte der Geist dieses Körpers. Es wird besser sein, keine Ausflüge mehr zu machen. Und so liess er sich im Raum hängen und überwachte seine Herztöne.
Ein wacher Schlafender! Das war er. Und während er an seiner maroden Beziehung mit Salome herumstudierte, kam seine andere Frau. Die erste, die er mal geliebt hatte – Gisela.
Sie stand in der Tür wie angewurzelt. Doch dann überwand sie sich und machte ein paar Schritte auf ihn zu.
„Hallo Klaus“, sagte sie in einem etwas zu lockeren Tonfall. „Ich habe gehört, was geschehen ist und dachte, du würdest dich über ein paar Blumen sicher freuen.“
So ein Quatsch! Er hatte noch nie gern Blumen gehabt. Aber wenigstens redete sie mit ihm. Ob sie wohl ahnte, dass er sie wirklich hörte?
„Irgendwann musste das ja mal kommen. Ich meine, so wie du immer gefahren bist. Du, du und nur du! An uns andere denkst du nie.“
Das übliche Bla bla.
„Ach ja, und Pascal lässt dich auch grüssen. Er hat heute Training, vielleicht kommt er nachher noch rasch vorbei. Aber ob das viel bringt?“ Sie betrachtete den leblosen Körper nachdenklich. Ihre schönen blauen Augen weiteten sich langsam, als sie offenbar zu begreifen begann, dass sie mit einem Menschen sprach, der sich am Rande des Todes befand.
Abrupt stand sie auf, nahm ihr rosa Jäckchen von der Bettkante und verliess fluchtartig das Krankenzimmer.
Habe ich diese Frau mal geliebt?, fragte sich Klaus halb lachend. Sicher, es war eine schöne Zeit gewesen mit ihr. Oh, wie sie massieren konnte! Wohlige Erinnerungen durchströmten ihn. Und sie hatte es immer verstanden, ihn heiss zu machen. Wenn es ihm gelang, sich so lange zu beherrschen, bis sie es selbst nicht mehr aushielt, dann ging es weiter, ohne dass er etwas dazutun musste. Ja, sie war eine wundervolle Liebhaberin gewesen. Er hatte nie ganz verstanden, warum sie ihn verlassen hatte. Irgendwas von unbefriedigt und immer nur nach seinem Willen hatte sie gejammert und sich schliesslich einen Lover genommen. Er hatte sich ausgedient und wertlos gefühlt. Doch noch viel schlimmer war, dass Klaus seinen Sohn Pascal vermisste. Zuerst hatte er um ihn gekämpft. Dann hatte er ihn jedes zweite Wochenende bei sich gehabt. Aber dann war der Junge immer seltener zu ihm gekommen. Sein Training, seine Freunde waren ihm wichtiger geworden. Eine andere Erklärung konnte Klaus nicht finden. Traurig und verwirrt verdunkelten sich Klaus’ Gedanken.
Schon bevor sich die Türe bewegte, fühlte er seine Mutter kommen. Alles wurde wieder hell, warm und weich. Sie trat ein, zögernd und angstvoll, und doch so voller Liebe, dass Klaus sich unweigerlich zu seinem Körper hingezogen fühlte. Er liess sich fallen in diese Sicherheit eines Säuglings an der Brust seiner Mutter – bis er seinen Vater eintreten sah. Jäh zog er sich wieder zurück.
Erstaunt stellte Klaus diese unerwartete Wirkung fest. Es war ihm nie bewusst gewesen, wie gross die Distanz zu seinem Vater war. Er hatte Respekt, verehrte seinen Vater, aber er hatte irgendwie Angst vor ihm.
Doch heute sah dieser nicht so streng und unversöhnlich aus wie sonst. Nein, da stand ein gebrochener Mann, hilflos und unsicher angesichts des leblosen Körpers seines Sohnes in diesem Spitalbett. Fassungslos sah Klaus, wie sein sonst so aufrechter Vater weiche Knie bekam und sich am Arm seiner Frau festhielt.
„Setz dich hier auf den Stuhl, Paul“, riet sie ihm.
Doch er tappte mit kurzen Schritten zum Bett und setzte sich auf die Bettkante. Ein Zittern ging durch seinen Körper, als er sich zu seinem Sohn niederbeugte und mit beiden Händen dessen leblose Finger umschlossen hielt.
Und dann fielen Paul Weimars Tränen auf die Bettdecke: „Ich liebe dich, Klaus, ich liebe dich doch so sehr!“
Ein gewaltiger Sog schleuderte Klaus in seinen Körper zurück.
„Lina, er hat sich – er ist – sieh doch!“, stammelte Paul.
Klaus’ Mutter griff geistesgegenwärtig nach der Klingel. Dann nahm sie sein Gesicht in ihre warmen Hände und sagte unter Tränen: „Klaus, wir sind bei dir. Papa und ich, wir haben dich beide so lieb! Schön, dass du bei uns bleibst, schön!“
Erleichtert fiel Klaus in einen tiefen erholsamen Schlaf.
Nur ganz langsam kam er zu vollem Bewusstsein. Er konnte noch nicht recht wieder einsteigen in dieses Leben. Irgendetwas drehte sich in seinem von starken Schmerzmitteln betäubten Kopf herum. Pascal! Er musste ihm etwas sagen. Aber was?
Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen, als er an Salome dachte. Sein Engel. Sie hatte es ihm doch gezeigt. Wie hatte er es nur vergessen können. Ganz schwach flüsterte er: „Ich liebe dich!“
Jemand nahm seine Hand.
„Ich dich auch, Papa!“
Weihnachten fällt aus
„Ich hasse Weihnachten!“, sagte Joe. Eigentlich hiess er Josef. Aber seit er in der zweiten Klasse das Weihnachtsspiel aufführen musste, durfte ihn niemand mehr so nennen. Inzwischen war er schon gross – vergangene Woche war es ein Meter 55 gewesen – und wollte von dem ganzen Glimmer- und Liederquatsch nichts mehr wissen. „Jedes Jahr der selbe Mist!“, rief er aus. „Geschenke basteln und das ganze Taschengeld für andere ausgeben. Klavier üben und immer wieder die gleichen öden Songs im Radio. Mann, das macht mich echt krank!“ „Du hast ja recht“, brummte der Vater, „ich habe auch nicht gerade grosse Lust auf den Einkaufsrummel. Seit Anfang November verkaufen sie schon überall Schokolade und Christbaumschmuck. Von mir aus könnte man Weihnachten ausfallen lassen.“ „Oh yes! Das wäre stark!“ Hoffnungsvoll schaute Joe seine Mutter an, die ein nachdenkliches Gesicht machte. „Nun ja, ich weiss nicht recht. Wir haben doch immer ... Ich meine, das Essen, die gemütliche Stimmung...“ „Gemütlich? Jedes Jahr die selben Diskussionen! Zu viele Geschenke, zu wenige Geschenke, zu teure Geschenke, nutzlose Geschenke. Und dann in heller Eintracht: Stille Nacht, heilige Nacht! Und nur der Owi lacht“, fiel ihr Marianne in den Rücken. Sie hoffte jedes Jahr, nicht mehr dabei sein zu müssen und hatte sich vorgenommen, diesmal mit ihren achtzehn Jahren an Heiligabend das Weite bzw. ihren Freund zu suchen. „Ja, gemütlich!“, rief die Mutter gekränkt. „Ich gebe mir immer solche Mühe. Und Oma kommt doch.“ „Das ist es ja“, warf der Vater ein, „gegen meine Mutter ist an Weihnachten kein Kraut gewachsen.“ „Dann streiken wir eben diesmal.“ Joe sah seine Chance. „Drei zu eins, Mama!“ „Na gut, wenn ihr meint“, gab sich die Mutter geschlagen. „Wenn ich mir das nämlich richtig überlege... Kein Einkaufsstress, keine Kocherei, keine Tannnadeln und Wachsflecke im Teppich. Weihnachten fällt dieses Jahr aus. So sei es. Amen.“ Die Tage verstrichen. Joe genoss seine Freizeit mit der Play-Station. Aus dem Fenster der Nachbarn tönte das Klavier. „Süsser die Glocken nie klingen“, grinste er und spielte zum tausendsten Mal seine Games. Ich könnte mal ein neues brauchen, dachte er. In der Schule assen die Kollegen frische Weihnachtsplätzchen. Joe ass sein Sandwich. Mandarinen haben nichts mit dem Weihnachtsmann zu tun, sagte er sich und schnappte sich eine. Doch so ganz wohl war ihm nicht dabei. Ein Fenster nach dam andern im Quartier begann bunt zu leuchten, bei Joes Familie leuchtete nur der Fernseher. Weihnachtsmänner flitzten über den amerikanischen Filmhimmel und brachten Joe mit ihrem „Ho ho!“ zum Lachen. Aber Marianne zappte weg: „Das ist nichts für uns, dieses Jahr gibt’s Krimis und Action.“ Am 24. feierten sie in der Schule mit Frühstück und Kerzenlicht. Der Lehrer las eine Geschichte von irgend einem Kind, das ein rührseliges Erlebnis hatte, und Joe dachte, dass er an diesem Abend früh zu Bett gehen wollte. Irgendwie hatte er keine Lust auf einen normalen Fernsehabend. „Kommst du mit zum Weihnachtsmarkt? Ich gehe Kerzen ziehen“, fragte Salome, seine Pultnachbarin. Joe bekam Herzklopfen. Wie lange hatte er überlegt, wie er es anstellen könnte, etwas mit Salome zu unternehmen, ohne vor der ganzen Klasse dumm dazustehen, wenn sie ihn abwies. Und nun fragte sie ihn! Aber Weihnachtsmarkt – und Kerzen ziehen! Ausgerechnet. Mit rotem Kopf stammelte er: „Ich weiss nicht, eigentlich gerne, aber ...“ „Du musst nicht. War ja nur ne Frage.“ Salome klang enttäuscht. Oder bildete er sich das nur ein? Was war er nur für ein Trottel! „Doch, ich glaube, es lässt sich einrichten“, schummelte er sich aus der Situation heraus. „Um drei?“ Die Stimmung auf dem Weihnachtsmarkt war wundervoll. Der süsse Duft von Lebkuchen und Rumpunsch mischte sich mit demjenigen von Duftkerzen und Räucherstäbchen, Rauchwürsten und Käsekuchen. Handwerk und Dekorationen, Bücher, Seifen, Spiele, Glaswaren ... Oh, dort war genau so ein Schirm, wie der, welchen Mama letztes Jahr verloren hatte. Drei Monate hatte sie deswegen herumgejammert. Joe kaufte ihn. Und für Papa eine CD von Deep Purple. Joe hatte mal gehört, dass dies seine Lieblingsplatte gewesen war, aber der alte Plattenspieler war kaputt. Nun fehlten noch Oma und Marianne. Für sie machte Joe Kerzen. Und die dritte wurde ganz besonders schön. Er war lange nicht mehr so zufrieden gewesen. „Ha! Was machst du denn hier?“ Marianne stand mit einer dampfenden Tasse Rumpunsch hinter ihm. Etwas verlegen grinste er sie an. „Und du?“ „Ach, ich hatte nur kalt. Einkäufe?“ Sie wies mit dem Kinn auf die volle Tüte, aus welcher der Schirm ragte. Joe wollte gerade etwas erwidern, statt dessen packte er seine Schwester am Arm und zerrte sie hinter die Süssigkeitenbude. „Mist! Da ist Papa!“ „He, seid ihr bekloppt?“ Salome verstand überhaupt nichts. Sie folgte den beiden und blickte drein wie ein einziges Fragezeichen. Etwas betreten berichteten sie von ihrem Weihnachtsboykott. „Moment“, sagte darauf Salome und verschwand in der Menge. Nach etwa zehn Minuten kam sie zurück. „Also: Das Duft-Badeöl ist wohl für eure Mutter. Der Hut hoffentlich nicht. Wie einem so was gefallen kann, weiss ich auch nicht. Aber eine coole ... oh, nein, das sage ich besser nicht.“ Salome kicherte in ihren dicken Schal hinein und rieb sich die Finger. „Wovon sprichst du?“, fragte Joe. „Von eurem Vater. Er hat eingekauft.“ Marianne und Joe sahen sich an, dann prusteten sie los. Lachend und scherzend machten sie sich auf den Heimweg. Das konnte ja lustig werden. Wie sollten sie das Mama beibringen? Salome hatte sich bei der Bushaltestelle verabschiedet. Joe und Marianne gingen schweigend die letzten paar Meter nach Hause. Aber was war das? Auf der Treppe duftete es schon irgendwie vertraut. Und war das nicht der Wagen von Oma? Joe schämte sich ein bisschen. Aber er musste zugeben, dass er sich freute. Als er beim Eintreten den warm flackernden Schein im Wohnzimmer sah, hüpfte ihm das Herz. Rasch schlich er die Treppe hoch in sein Zimmer und wickelte eilig von seinem Bucheinbandpapier um die Geschenke. Das musste reichen. Dann ging er möglichst scheinheilig nach unten, wo Oma wie immer andächtig vor dem geschmückten Bäumchen sass. „Na, das wird ja aber auch Zeit, Junge!“, stichelte sie. „Ich dachte schon, ich muss alleine feiern!“ Und dann kam die verhasste Umarmung, dass Joe die Luft wegblieb. Aber komisch, er genoss sogar das. „Wo ist Mama?“, fragte er um sich blickend. „In der Küche, wo denn sonst?“, sagte Oma, „Oder denkst du, dein Vater kocht das Weihnachtsessen?“ „Warum eigentlich nicht?“, tönte es von der Türe her. Papa legte einige Pakete unter den Baum und verschwand in der Küche. Joe ergriff die Gelegenheit, um auch seine Sachen hinzulegen. Zwanzig Päckchen zählte er. Marianne war schneller gewesen. Da rief Mama zum Essen und Papa trug stolz eine Schüssel mit gebratenem Truthahn herein, als hätte er ihn selbst erlegt, gerupft und zubereitet. Mama zwinkerte Joe zu. Der Abend verlief wie jedes Jahr, nur dass diesmal das Klavierspiel ausfiel. Keiner verlor ein Wort über ihre missachtete Abmachung. Die Geschenke fand diesmal niemand zu teuer oder zu übertrieben. Sie waren spontan und von Herzen, ehrlich und aus dem inneren Bedürfnis heraus, den andern eine Freude zu bereiten. Am gleichen Abend noch legte Joe Salome die schöne Kerze aufs Fensterbrett.
Brombeeren
Regungslos sass Carina auf dem Balkon und starrte in ihren verwilderten Garten. Seit Tagen fühlte sie sich leer und unfähig irgend etwas anzupacken. Sie funktionierte nur noch. Wie lange schon? Sie wusste genau, dass ihre Schwiegermutter sie als faul ansah, weil sie sich lieber der Musik und andern schönen Künsten zuwandte als dem Haushalt und dem Garten. Und wenn Carina nun über ihren Garten blickte, so musste sie dieser Frau recht geben. Sie war faul. Carinas Welt waren die Worte, die Töne, die Gefühle. Da, wo ihr Mann Adrian herkam, zählte der Fleiss, die Redlichkeit, das Heimchen am Herd. Freilich, Adrian sagte nichts dazu. Er nahm sie, wie sie war. Lieber sagte er gar nichts, als ihr Vorwürfe zu machen. Sie müsste eigentlich glücklich sein. Bis vor kurzem war es ihr gelungen, ab und zu auszubrechen, auf Gefühl zu schalten und dann wieder zurück zu schlüpfen in die Kälte ihrer Ehe. ...wenn nur dieses Chaos nicht wäre. Sie musste da draussen aufräumen, ausreissen, abschneiden. Carina erhob sich ächzend, schlurfte über den grossen Balkon zur Treppe, überwand sich, in die Garage zu gehen und Stiefel, Gartenhandschuhe, einen Eimer und die kleine grüne Harke zu holen. Aber wo sollte sie anfangen? Am einfachsten war es beim Salat. Dort war die Erde noch etwas feucht und locker, aber den Salat musste man suchen im Unkraut. Carina packte entschlossen die Harke und den Eimer. Doch schon bald stand sie hilflos im grünen Meer. Hier konnte sie unmöglich beginnen! Es war einfach zu viel auf einmal. Vielleicht dort drüben? Dort gab es wenigstens auf einer Seite ein absehbares Ende.
Autsch! Verdammt, das waren diese verfluchten Brombeeren! Niemand hatte die gebeten, hier zu wachsen. Aber sie waren einfach nicht unterzukriegen. Eigentlich liebte Carina die verführerisch süssen schwarzen Beeren, wenn nur diese scharfen Dornen nicht wären! Sie hatte sich eine lange Schramme in die Haut gerissen. Schluss damit, die Dinger mussten weg! Aufräumen, ausreissen, abschneiden. Carina verfolgte die Ranke bis zu ihrem Ursprung zurück. Aha, beim Kirschbaum hockte der Strauch. Na warte! Rasch holte sie auch noch die Gartenschere und machte sich an die Arbeit. „Hat dich die Arbeitswut gepackt?“
Oh je, der Nachbar! „Aufräumen, ausreissen, abschneiden! Das ganze Chaos muss weg. Die Brombeeren zuerst. Dann mache ich tabula rasa.“ „Da hast du ja noch einiges vor. Soll ich dir helfen?“
„Nein danke, da muss ich alleine durch.“ Wirklich, dabei konnte ihr keiner helfen. Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Wie du meinst. Aber überfordere dich nicht. Es muss ja nicht gleich alles auf einmal sein.“
„Doch, sonst schaff ich das nie.“
Nach zwei Stunden lagen die Brombeersträucher in Stücke geschnitten auf dem Vorplatz. Das Unkrautmeer staute sich im Kompostgitter. Den Salat hatten die Schnecken schon halb gefressen, also hatte Carina gleich das ganze Beet umgegraben. Nun war sie fertig. Fix und fertig. „Aufräumen, ausreissen, abschneiden.“ Den ganzen Nachmittag hatte sie diese Worte wiederholt, fast wie ein Mantra. Und sie waren immer noch da.
Nachdem alles versorgt war, stand sie erst einmal unter die Dusche. Ja, es fühlte sich gut an, es war der richtige Weg. Frisch gewaschen und in ein molliges Badetuch gewickelt setzte sie sich ans Telefon. „Jaaa?“
Carina schoss das Blut heiss durch den ganzen Körper. ‚Aufräumen, ... jetzt!’ „Hallo du! Ich bin’s.“
„Mmh, schön.“ „Ja - Hör mal, wir haben doch schon oft darüber gesprochen, wie’s weitergehen soll. Nun, ich, ... es geht nicht mehr weiter. Ich kann nicht mehr.“
Langes Schweigen. „Das musste ja mal kommen. Es ist vielleicht besser so. Es war auch für mich nicht einfach. Aber es war wunderschön. Ich werde dich immer lieben.“
Carina schluckte schwer. „Ich dich auch.“ Die Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie auflegte. Zum letzten mal. Sie zog sich an und bereitete das Abendessen vor. Als Adrian nach Hause kam, war alles auf dem Tisch. „...diese verdammten Idioten! Meinen, ich mache den Trottel für sie! Arschlöcher! Ich habe ihnen gesagt, dass ich diese Geschäftsbeziehung beenden will.“
Ausreissen. Abschneiden! Jetzt! „Und ich will unsere Beziehung beenden.“
Der Augenblick
Die Fahrt war lang. Im Abteil sass nur noch eine ältere Frau und las. Sybille hatte vergessen, etwas zum Lesen einzupacken. So schweiften ihr Blick und ihre Gedanken frei im Raum herum. Das Wetter war grau in grau und die vorüberziehende Landschaft kein bisschen reizvoll. Topfeben und ohne Einzelheiten, an welchen ihre Augen sich hätten festhalten können. Ohne Berge kam sie sich alleine vor, irgendwie ausgestellt und schutzlos. Während sie ihren Kopf drehte, um auf der andern Zugseite hinauszuschauen, streifte sie zwischen den Sitzen den Blick zweier tiefbrauner Augen, die sie direkt fixiert hatten. Wenigstens schien es ihr so, denn sie hatte instinktiv den Kopf zu Ende gedreht, während sie schon die Hitze in die Ohren steigen fühlte. Tapfer betrachtete sie die Grautonlandschaft auch auf der andern Seite des dahinsausenden Zuges, ohne jedoch wirklich etwas zu sehen, bis sie endlich einen Blick auf den Mann wagte, dessen Augen sich in ihre Seele eingebrannt hatten. Er war dunkelhäutig, hatte feingelocktes schwarzes Haar und schaute ebenso verloren aus dem Fenster, wie vorher sie selbst. Gut! So konnte sie ihn ungestört betrachten. Ob er wohl hier aufgewachsen war? Vielleicht war er auch zum ersten mal in Europa, sprach nur Englisch oder dieses typische Afro-Französisch. Er machte keinen so üblen Eindruck, und Sybille merkte, wie ihre feinstoffliche Hand ihm eine lose Locke aus der Stirn strich. Beim Gedanken an die Berührung seiner fremdartigen Haut merkte sie, wie ihre Brustwarzen fest wurden. In diesem Moment wurde sie gewahr, dass seine Augen auf sie gerichtet waren. Wie lange schon? Verlegen wandte sie sich ab.
Im inzwischen von Schneeregen durchzogenen Grau draussen gab es nichts, das ihre Gedanken abzulenken vermochte. Nass lief es an der Scheibe herab und nass war auch ihr Slip, wie sie etwas verstört feststellte. Sie versuchte zu schlafen, doch die Traumbilder, die sie erlebte, waren zu deutlich. Sie musste die Augen öffnen – und traf auf die seinen. Sofort stand sie auf und floh durch den Gang zur Toilette. Diese war jedoch besetzt und so ging sie einen Waggon weiter. Auch dort war der Waschraum verriegelt und sie kehrte wieder um, in der Hoffnung, dass der erste inzwischen wieder frei sei. Erleichtert betrat sie die leere Kabine und wollte gerade die Tür schliessen, als sie durch die offene Spalte geradewegs in sein Gesicht sah. Sie blieb wie gelähmt stehen. Auch er schien überrascht. Er fasste sich jedoch rasch und trat mit fragendem Blick auf sie zu. „Kennen wir uns?“ „Nein, noch nicht“, flüsterte sie, während sie die Türe öffnete und sich fragte, was sie hier tat. Er betrat langsam die Kabine, ohne seine wundervoll hypnotischen Augen von den ihren abzuwenden, und schloss hinter sich ab. Es gab nichts, das sie dazu veranlasst hätte, um Hilfe zu schreien. Jede Bewegung war eine Frage, die sie stumm bejahte. Jede Berührung war ein Kompliment, das sie erschaudernd entgegennahm. Er fühlte durch die Bluse, wie sich ihre Brüste ihm entgegenstreckten und seine staunenden Hände wanderten langsam und unendlich zärtlich ihren Rücken hinunter, während sich seine dicken warmen Lippen um ihren halb geöffneten Mund schlossen. Seine Finger fanden den Reissverschluss, liessen den Rock von ihrer Hüfte fallen und suchten ohne grosse Umwege die Feuchtigkeit zwischen ihren heissen Oberschenkeln. Zu seiner Freude halfen ihm ihre fahrigen Hände aus der engen Hose. Es war nicht mehr möglich, den Genuss noch in die Länge zu ziehen. Sein pralles Glied suchte und fand ihre nasse Wärme, stiess ein paar mal vorsichtig und dann immer stärker zu und entlud sich im gleichen Moment, in dem sie vergeblich versuchte, den Schrei der in ihr aufwallenden Lust zu unterdrücken. Nur die Enge der Kabine verhinderte, dass sie den Halt verlor und zusammenbrach. Sie fand sich in seinen Armen, an seiner dunklen erotisch fremdartig riechenden Brust wieder und sog den Duft in sich ein. Einen kurzen Moment noch genossen beide den Taumel der Gefühle, bevor sie sich voneinander lösten, sich bekleideten und als wäre nichts geschehen zu ihren Plätzen zurückgingen. Der Zug verlangsamte sich. Hinter einem Hügel zeigte sich die eben untergehende Sonne, als Sybille lächelnd am nächsten Bahnhof ausstieg.
Kurt, hinten links
An meiner ersten Arbeitsstelle nach der Lehrerinnenausbildung hatte ich unter anderem zwei Wochenlektionen Geschichte in einer 7.-9. Klasse zu unterrichten. Die Schule war sehr klein: In nur drei Klassenzimmern sassen jeweils drei Jahrgänge zusammen. Die Oberstufe umfasste ganze neun Schüler, acht davon Jungen, aber Lisa in der Mitte der hintersten Reihe hatte alle im Griff. Neben ihr, in der linken Ecke, sass Kurt, gross, schlacksig und zu jedem Unfug bereit. Der dritte Neuntklässler war Urs, der Sohn des Schulkommissionspräsidenten und einflussreichsten Bauern des Dorfes. Sein Bruder Peter sass in der achten Klasse. Manchmal kamen die beiden mit dem Traktor zur Schule, weil sie nachher noch aufs Feld mussten. Vom Klassenlehrer Lüdi wusste ich mit der Zeit, dass er sehr streng war, derart, dass er einem Schüler die Brille abnehmen, ihm eine Ohrfeige geben und dann die Brille wieder aufsetzen konnte. Entsprechend fürchteten ihn die Kinder.
Ich dagegen musste mir als junge Lehrkraft einiges an Scherzen gefallen lassen. Einmal hörte ich das Zerreissen von Stoff, während ich mich bückte, um das Gefäss mit Tafelkreide aufzuheben, welches unerklärlicherweise am Boden stand, einmal stand mein Auto nach der Schule ganz schräg auf dem Parkplatz und einmal hätte ich beim Umdrehen der Wandtafel beinahe einen Kracher ausgelöst. Aber da kannte ich die Klasse schon gut genug, um nichts ohne Vorsicht zu tun. Meistens konnte ich genügend Humor aufbringen, um über die Streiche zu lachen, zumal ich auch merkte, dass ich nicht nur deshalb beliebt war, sondern die Schüler ansonsten gerne mitmachten.
Eines Nachmittags jedoch hatte der lange Kurt es besonders lustig. Was ich auch sagte, drehte er mir im Mund um oder sagte so lange „ja, ja, ja, ja, …“, bis mir endgültig der Kragen platzte:
„So, ich habe mich lange genug von deinem Geschwätz aus der Ruhe bringen lassen. Wir wollen hier Unterricht abhalten. Geh bitte vor die Tür.“
„Nein!“, warf er mir lachend ins Gesicht.
„Doch, du gehst jetzt raus.“
„Nein!“
Nun war ich etwas perplex und im ersten Moment ratlos. Aber da ich gemerkt hatte, dass auch die andern Kinder inzwischen genervt waren, sagte ich kurzerhand: „Urs, Peter, setzt ihn bitte vor die Tür.“
Die beiden Bauernsöhne erhoben sich und Kurt rannte quietschend wie ein Schweinchen vor dem Metzger davon. Das Zimmer war nicht allzu gross, und so ging es nicht lange, bis er links und rechts von arbeitsgewohnten starken Händen gepackt und zur Tür getragen wurde. Er strampelte aus Leibeskräften. Bei der Tür traf sein Fuss den Stecker des Hellraumprojektors in der Steckdose und dieser verteilte sich in etwa fünf Stücken über den Fussboden.
Kurt kreischte auf: „Nein! Scheisse! Wenn der Lüdi das merkt!“
Seine Kollegen liessen ihn los und er kroch unter den Pulten durch um die Einzelteile aufzusammeln, verzog sich an seinen Platz und verbrachte den Rest der Stunde damit, den Stecker wieder zusammenzukleben. Der Unterricht ging ohne Kurts Unterbrechungen problemlos weiter.
Eine Woche später kam es, wie es kommen musste: Gleich zu Beginn der Stunde wurde mir klar, dass Kurt die Grenzen ausloten wollte. Der Schalk stand ihm ins Gesicht geschrieben und an Unterricht im eigentlichen Sinn war nicht zu denken. So dauerte es auch nicht lange, bis ich fragte: „Wer stellt Kurt vor die Tür?“
Vier Jungs erhoben sich und das Gezappel und Gekreische ging von vorne los. Beim Stecker an der Tür zog Kurt vorsichtigerweise die Beine ein – und draussen war er. Seine Mitschüler hielten die Tür von innen zu und riefen: “Schliessen Sie ab, sonst kommt der wieder rein!“
Da ich aber als kleine Teilpensenlehrerin keinen eigenen Schlüssel besass, war das nicht möglich. So stellten meine eifrigen Helfer einen Stuhl unter die Türfalle. Nach einigem Rütteln gab Kurt auf. Es wurde still draussen und ich konnte mit acht sehr aufmerksamen Schülern weiterfahren.
Etwa zehn Minuten später klopfte es an die Tür. Ich erschrak. Vorsichtig entfernte ich geräuschlos den Stuhl und öffnete. Es war die Hauswartin.
„Darf ich rasch den Schülern etwas sagen?“
„Ja, natürlich“, erwiderte ich arglos.
„Hört mal zu! Was macht der Kurt bei der Post oben?“
Verhaltenes Gekicher.
„Ich habe ihn vor die Tür gestellt“, erklärte ich, „aber er sollte eigentlich hier bleiben und nicht einfach verschwinden.“
„Also wisst ihr“, ereiferte sie sich, wieder den Kindern zugewandt, „was ihr da mit der netten Lehrerin macht, ist einfach nicht in Ordnung. So dürft ihr mit ihr nicht umgehen, sie gibt sich solche Mühe mit euch und ihr benehmt euch dermassen ungehobelt … „
Die Situation gefiel mir gar nicht. So gut sie es ja meinte, sie untergrub meine eigene Autorität und ich war heilfroh, als sie sich mit den Worten verabschiedete: „Also, dann schliessen Sie jetzt wieder ab.“
Ich erklärte ihr, dass ich keinen Schlüssel habe, und so schloss sie uns ein. Kurz vor der Pause hörte ich, wie sie uns auch wieder befreite.
Doch Kurt war nirgends zu sehen.
So hatten wir auch in der zweiten Lektion unsere Ruhe, kamen gut vorwärts und die andern Schüler waren äusserst gut gelaunt, jedoch in einer Art und Weise, die auch meinem Humor zuträglich war.
Kaum öffnete ich die Tür nach dem Klingeln, ging das Drama weiter: Kurt baute sich mit hochrotem Kopf, der höher oben war als meiner, vor mir auf und ergoss seine Entrüstung über mich: „Jetzt hab ich’s genau gehört. Die andern dürfen Witze machen, ich nicht! Das ist unfair, Sie haben etwas gegen mich! Sie sind so gemein zu mir….“ Dabei tänzelte er immerzu vor mir herum und ballte die Fäuste hilflos neben seinem langen Körper. Jeder Versuch ihn zu beruhigen schlug fehl und heizte ihn nur noch mehr an. „Sie wollten mich loswerden. Und mit den andern hatten Sie’s dann lustig. Ich habs gehört, ganz genau hab ich’s gehört.“
Die Unterstufenlehrerin und die Hauswartin standen bereits auf der Treppe unten und sahen mit offenem Mund dem Spektakel bei mir oben zu. Ich fand die Situation dermassen komisch, dass ich das Lachen unterdrücken musste. Mit Tränen in den Augen schob ich mich an dem tobenden Kurt vorbei nach oben zum Lehrerzimmer, atmete tief durch, nahm meine Sachen und verliess an dem immer noch japsenden Schüler und den verdatterten Frauen vorbei das Schulhaus.
Kaum war ich zu Hause angekommen, klingelte das Telefon. Der Lehrer Lüdi. Was denn vorgefallen sei? Er habe von der Hauswartin gehört, dass mich der Kurt fast zum Weinen gebracht habe. Nun wolle er aber meine Seite auch noch hören.
Ich lachte laut heraus. „Nicht das Weinen, Res, das verkniffene Lachen trieb mir Tränen in die Augen. Das Ganze war so komisch!“ Und ich erklärte ihm die Situation und wie es dazu gekommen war.
„Aha, dann ist es in Ordnung. Ich muss in dem Fall nichts weiter unternehmen. Du machst das ja bestens.“
Im weiteren Unterricht hatte ich mit Kurt keine Probleme mehr. Er machte mit und dosierte seine witzigen Sprüche sehr genau. Es entstand eine Art stille Kommunikation, mit der ich ihm signalisieren konnte, wieviel ich ertrug und wann die Grenze erreicht war. Und ich staunte nicht schlecht, als er mir zum Abschied einen ganzen Rollschinken schenkte.
Dicke Luft
Er sitzt mir gegenüber. Wir sprechen kein Wort. Ich frage mich, was er wohl denkt.
Mir wird immer heisser. Wenigstens ein bisschen Small-Talk wäre ja möglich, aber nein, er ist hereingekommen, hat sich hingesetzt und schweigt.
Es herrscht dicke Luft und so kann ich mir erlauben, ihn ein wenig zu mustern. Hager ist er. Kaum Fleisch an den Knochen. Brusthaare. Wahrscheinlich taxiert er mich ebenfalls. Sehr diskret, versteht sich. Ich bemühe mich also, keine falschen Signale auszusenden. Dennoch will ich entspannt bleiben. Die Ruhe vorher allein im Raum hatte ich genossen, das Schweigen jetzt beengt mich nur am Rande, vielmehr amüsiert es mich. Alles wäre möglich. Und doch wieder gar nichts. Beide geraten langsam aber sicher ins Schwitzen. Ich bin sicher, dass es ihm nicht anders ergeht als mir. Mir läuft ein Tropfen von der Brust über den Bauch hinunter zwischen den Beinen durch auf die Sitzbank aus Marmor oder Granit, Schiefer vielleicht, jedenfalls schwarz. Tief ziehe ich die würzige Luft in mich ein und konzentriere mich auf mich selbst. Es spielt ja doch alles keine Rolle mehr. Ich kann mir keine grössere Blösse geben, brauche also nicht darauf zu achten, wie ich wirke. Nackt. Da gibt es nichts mehr zu vertuschen, nichts zu verstecken. Nackt auch er. Uns trennen knappe zwei Meter heisse Luft, welche die Gedanken direkt an die Decke tragen muss. Dort kreisen sie, bevor sie in heissen Tropfen wieder herunterfallen. Ich kann nur sitzen und warten. Einer von uns wird zuerst gehen. Einer wird es nicht mehr aushalten. Dieses Schweigen. Diese Hitze. Diese schier undurchsichtige Luft.
Es reicht. Ich liebe Dampfbäder, aber wenn ich nachher noch in die Sauna gehen will, muss ich jetzt erst mal kalt duschen!